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10.4 Ossis4)

Früher habe ich meinen Vater beneidet, daß er zwei Gesellschaftsordnungen bewußt erlebt hat, und ich habe mir gewünscht, mal ein Jahr in einem kapitalistischen Betrieb ein Praktikum zu machen. Was vor der Wende ein unrealistischer Wunsch wahr, ist inzwischen für alle nicht ganz jungen Ossis Selbstverständlichkeit. Das ist eine wertvolle, wenn auch für manchen bittere Erfahrung , die wir den Wessis voraus haben. Diese Erfahrung haben inzwischen mehr oder weniger auch die Bürger der anderen ehemaligen sozialistischen Länder gemacht. Wir ehemaligen DDR-Bürger haben dabei aber einen Vorteil. Durch den Beitritt zur größeren Bundesrepublik sind wir sehr kurzfristig mit einem ausgereiften noch weitgehend intakten Kapitalismus konfrontiert worden.

Die Frage ist, in welchem Maße ist zu erwarten, daß die Ossis und auch die anderen Bürger der ehemaligen sozialistischen Länder durch diese Erfahrung zu Akteuren für einen nächsten Sozialismusversuch werden.

Dafür spricht ihre Erfahrung mit zwei Gesellschaftsordnungen, so daß sie die konkreten Vor- und Nachteile beider Systeme im Detail erlebt haben. Diese Erfahrung dürfte die Hemmschwelle für die Bereitschaft zu einem neuen Versuch verringern.

Außerdem spricht dafür, daß sie eigentlich alle durch ihre Schulbildung mit dem Marxismus einigermaßen vertraut sein müßten, der nach meiner Meinung weiterhin die beste verfügbare theoretische Grundlage ist, gesellschaftliche Prozesse zu verstehen. Dafür spricht auch, daß sich die Bevölkerung mit ihren sozialistischen Erfahrungen nach der Restauration kapitalistischer Verhältnisse in allen Klassen und Gruppen der Gesellschaft wiederfindet. Dabei haben junge Intellektuelle günstigere Chancen sich in der Klasse der Kapitalisten zu etablieren. Auch wenn diese sich zunächst vom Sozialismus abgewandt haben, sehe ich hier ein wichtiges Potential, um zukünftig auch in Kapitalistenkeisen ein Verständnis für sozialistische Ideen zu gewinnen.

Dagegen spricht, daß empirische Erfahrungen allein nicht ausreichen. Eine Gesellschaftsordnung läßt sich nicht dadurch begreifen, daß man nur ihre konkret erlebten Vorteile gegen ihre konkret erlebten Nachteile aufrechnet. Es bedarf einer theoretischen Verallgemeinerung. Außerdem ist leider festzustellen, daß es ein großer Teil der Ossis verstanden hat, den Marxismus nicht zur Kenntnis zu nehmen, obwohl oder weil versucht wurde, ihnen diese Lehre aufzudrängen.

Es ist natürlich auch zu berücksichtigen, daß ein Teil der Bevölkerung im Staatssozialismus durch Arroganz, Dummheit und Selbstherrlichkeit der herrschenden Politikerkaste und ihres Machtapparates gewaltig drangsaliert wurde, so daß sie verständlicher Weise von Sozialismus nichts mehr wissen wollen. Anderseits ist auch diese Tatsache zu relativieren, denn von den Repressionen waren auch in großem Maß überzeugte Sozialisten betroffen, und ein großer Teil von ihnen hat trotzdem seine Überzeugung nicht aufgegeben, sondern ist weiterhin bereit, für einen besseren Sozialismus einzutreten.

Zusammenfassend möchte ich feststellen, daß die persönlichen Erfahrungen aus zwei Gesellschaftsordnungen die Bürger der ehemaligen sozialistischen Staaten nicht zwangsläufig zu Akteuren des nächsten Sozialismusversuchs machen, daß aber daraus ein erhebliches Potential zu erwarten ist. Insofern gibt es jetzt, nach den Jahrzehnten der Existenz eines staatssozialistischen Lagers, eine wesentlich bessere Chance für die Einführung eines demokratischen Sozialismus auf friedlichem Wege, als vor der Oktoberrevolution 1917.

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