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10 Akteure der Transformation

10.1 Proletarier

Marx und Engels hielten die Klasse der Proletarier für die entscheidenden Akteure einer sozialistischen Revolution, obwohl sie als die wichtigsten Theoretiker dieser Bewegung nicht aus dieser Klasse stammten. Sie hatten dafür auch plausible Argumente: Die Arbeiter sind die hauptsächlich benachteiligten der kapitalistischen Gesellschaft und haben deshalb auch objektiv des größte Interesse an einer Veränderung. Sie sind die größte und ständig wachsende Klasse und durch ihre Konzentration in den großen Betrieben gut zu organisieren.

In den Ländern des Staatssozialismus hat das Proletariat offensichtlich seine "historische Mission" nicht erfüllt. Daraus ergibt sich die Frage, wer die Akteure des zukünftigen Transformationsprozesses sein sollen.

Zunächst stellt sich die Frage, welche Rolle kann das Proletariat beim nächsten Sozialismusversuch übernehmen.

Die Zugehörigkeit zur Klasse der Proletarier ist definiert durch die Stellung zu den Produktionsmitteln, nämlich daß sie keine Produktionsmittel besitzen und deshalb ihr Einkommen durch Verkauf ihrer Arbeitskraft realisieren müssen.

Um das Für und Wider ihrer Aktivität im Transformationsprozeß zu diskutieren, ist es vielleicht günstig, die Klasse der Proletarier noch einmal in zwei Gruppen zu unterteilen. Die erste Gruppe sind die "einfachen" Arbeiter, die keine oder meist nur eine Facharbeiterausbildung haben, relativ einfache Tätigkeiten ausführen und relativ wenig verdienen. Die zweite Gruppe sind die "besser verdienenden" Arbeiter, die meist ein Studium absolviert haben, die eine anspruchsvolle fachliche Arbeit, z.B. Forschungs- und Entwicklungsaufgaben, oder eine leitende Tätigkeit ausführen und dementsprechend besser verdienen. Diese sind zum großen Teil den Intellektuellen zuzurechnen.

Die beiden Gruppen kann man natürlich nicht exakt von einander trennen, was auch nicht nötig ist. Sie gehen fließend ineinander über.

Für und Wider der "einfachen" Arbeiter als Akteure der Transformation:

Dafür spricht, daß sie weiterhin die hauptsächlich Benachteiligten sind durch geringes Einkommen und Arbeitslosigkeit. Deshalb haben sie weiterhin ein dringendes objektives Interesse an einer sozialeren Gesellschaftsordnung, unabhängig davon, inwieweit sie das auch erkennen.

Dagegen spricht, daß es ihnen aufgrund ihrer meist geringeren Bildung schwerer fällt, über andere Gesellschaftsmodelle nachzudenken oder ihnen angebotene Lösungsvorschläge zu erfassen. Damit sind sie auch leicht für populistische Scheinlösungen, u.a. auch rechtsradikale, anfällig. Sich echte Lösungsangebote anzueignen, wird ihnen auch dadurch erschwert, daß sie sich durch ihr geringes Einkommen wesentlich intensiver um die Sicherung ihrer Existenz bemühen müssen. Aufgrund ihres geringen Einkommens sind sie stärker an kurzfristigen kleinen Verbesserungen als an längerfristigen Veränderungen der Gesellschaft interessiert. Die Art ihrer Tätigkeit ist oft auch nicht dazu angetan, ihre geistige Tätigkeit anzuregen und ihre Allgemeinbildung zu verbessern. Im Wettstreit der Ideologien mit Meinungsmanipulationen, Demagogie und populistischen Lösungsangeboten wird es ihnen nicht leicht gemacht.

Für und Wider der "besser verdienenden" Arbeiter:

Dafür spricht, daß sie in der Regel eine bessere Ausbildung haben und die dazu notwendige Intelligenz. Die Anforderungen an die Ausbildung wachsen weiter, so daß sich die Ausbildung zukünftig noch weiter verbessern wird. Viele Aufgaben sind nicht mehr nur durch Fachidioten ausführbar, so daß auch in vielen Bereichen eine gute Allgemeinbildung erforderlich ist, bzw. diese Allgemeinbildung durch die Tätigkeit befördert wird. Damit sind sie besser in der Lage gesellschaftliche Defizite zu erkennen und sich eine eigene Meinung zu Lösungsangeboten zu machen. Durch günstigere Arbeitsbedingungen, mehr Freizeit und vorhandene Leistungsreserven sind sie eher in der Lage, an der Lösung gesellschaftlicher Probleme kreativ mitzuwirken.

Dagegen spricht, daß sie durch ihren höheren materiellen Lebensstandard und die Chance, im Kapitalismus ein erfülltes Leben zu realisieren, eher geneigt sind, diese Gesellschaftsordnung für die beste zu halten, oder wenn schon nicht für die beste, so doch für eine akzeptable.

Außerdem ist es leider oft nicht so, daß Menschen die auf einem Gebiet hervorragende Leistungen erbringen, auch auf anderen Gebieten in der Lage oder bereit sind, auf hohem Niveau über Probleme nachzudenken und sich Wissen anzueigenen. Weiterhin wird die Ideologie des Kapitalismus von ihren Protagonisten stark in der Richtung geprägt, Wohlstand und ein erfülltes Leben mit einem maximalen Konsum gleichzusetzen. Damit werden die "besser verdienenden" Arbeiter dazu animiert und durch das Arbeitsregime in den Firmen teilweise auch dazu gezwungen, ihre gesamte Leistungsfähigkeit und Kreativität ihrer Lohnarbeit zu widmen und nicht auf andere "dumme Gedanken" zu kommen.

Für beide Gruppen des Proletariats gibt es Gründe, die dafür und dagegen sprechen, daß sie Akteure werden im nächsten Versuch einen besseren Sozialismus aufzubauen. Es ist von keiner der beiden Gruppen zu erwarten, daß sie geschlossen für einen neuen Sozialismusversuch eintreten wird. Da die einzelnen Menschen unter gleichen objektiven Lebensbedingungen sehr unterschiedlich reagieren, ist zu erwarten, daß sich aus beiden Gruppen Arbeiter engagieren werden. Wie stark sie sich engagieren werden, hängt sicher auch stark davon ab, wie offensichtlich die Probleme werden. Es ist zu hoffen, daß sie nicht erst offensichtlich genug geworden sind, wenn die Katastrophe bereits eingetreten ist, oder kurz bevor steht, und der Lauf der Dinge nicht mehr abzuwenden ist.

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